BEILEID: Die Bedeutung von Beziehung und Bedürfnissen in der Trauerbegleitung auch am Arbeitsplatz


Die Bindung des Menschen an seine primäre Bezugsperson sichert laut Bowlby dem Säugling das Überleben. Schon allein deshalb ist das daraus resultierende Beziehungsverhalten, das mit zunehmenden emotionalen und kognitiven Fertigkeiten entwickelt wird, eine existenzielle Fähigkeit. Je größer der Verlust und die Krise, desto größer die Verunsicherung, und umso mehr steigt das Bedürfnis nach sicherer Bindung und Beziehung, um sich sicher zu fühlen. Deshalb ist es für Trauernde so wichtig, von feinfühligen, sorgenden Menschen unterstützt und begleitet zu werden. Die geborgene sichere Basis einer Beziehung mit einer in Notsituationen gut erreichbaren Person bietet die Möglichkeit, wieder Vertrauen zu entwickeln und neue Wege zu entdecken. Das soziale Netzwerk, also die menschliche Beziehung, bildet eine der beschriebenen fünf wichtigen Säulen der Identität nach Petzold.

Praktisch bedeutet dies, dass für den Betroffenen die persönliche Zuwendung von Familie, Freunden und Kollegen besonders wichtig ist, um trotz der großen Verunsicherung durch den Verlust wieder Zuversicht entwickeln zu können. Dazu gehört auch, dass das Schicksal und das Leid des Trauernden ausreichend gewürdigt werden, ohne in übertriebenes Mitleid oder Dramaturgie zu verfallen. Die Persönlichkeit des Betroffenen erfährt Sicherheit und Fürsorge in sich selbst am besten dadurch, dass der innere Beobachter, genau wie ein guter Begleiter im Außen, ausreichend Distanz zum Geschehen und zum Leid aufbauen. Mit respektvoller Distanz und ausreichend Empathie kann Unterstützung zur Selbsthilfe gegeben werden und so Selbstwirksamkeit erlebt werden. Deshalb möchte ich Sie ermutigen, sich ganz genau auszusuchen, welche Menschen Ihnen in der sensiblen Zeit des Trauerns guttun. Das hat nichts mit dem Verwandtschaftsgrad zu tun. Familienbande können gut sein, manchmal sind sie aber auch zu nah und zu schmerzhaft. Oft ist die Familie ja selbst mitbetroffen, oder es tauchen alte Geschichten in der Stresssituation wieder auf. Bei Wolfgang und Magdalena war es so, dass im Ort und auch in der Familie durch das Hochwasser und den Tod von Sonja zunächst alle Nachbarn, Freunde und Familie zusammengerückt waren. Beide Großeltern lebten in der Nähe, und alle kamen unangemeldet vorbei, um zu helfen. Nach einiger Zeit wurden vor allem Wolfgang die vielen gut gemeinten Ratschläge und Tipps zu viel. “Warum weiß hier jeder, was ich zu tun habe? Bin ich etwa ein kleiner Schulbub?“, fragte er sich. Als dann noch die Kollegen aus der Landschaftsgärtnerei anrückten, um seinen Garten wieder flott zu machen, wurde es ihm endgültig zu viel: Recht unwirsch jagte er sie vom Grundstück, und die Kollegen verstanden die Welt nicht mehr: Sie wollten doch nur helfen!

Legen Sie Wert auf gute, respektvolle Beziehungen im Inneren und Äußeren! Dazu gehört wertschätzende Kommunikation, die darauf aufbaut, die Bedürfnisse ganz genau zu formulieren. Mit die wichtigste Frage, die im Innen oder von außen im Trauerprozess gestellt werden darf, ist:

„Was braucht es jetzt?“

Was ist genau das Bedürfnis? Je genauer und präziser die Frage nach dem Bedürfnis beantwortet werden kann, desto effizienter und hilfreicher wird die Unterstützung sein. Manfred Max-Neef postulierte neun Grundbedürfnisse, die ich Ihnen, erweitert um Begriffe von Marshall B. Rosenberg, gerne erläutern möchte, da sie für mich die Grundlage unseres Lebenswillens darstellen. In meinem eigenen Leben habe ich einmal eine Zeit lang nicht verstanden, warum ich morgens überhaupt wieder aufstehe und jeden Tag aufs Neue weiter mache, obwohl sich vieles oft so mühsam anfühlte. Auch die Aussage von Albert Schweitzer: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ hat mich nur bedingt überzeugt. Warum wollen wir leben? Was treibt uns?

Für mich liegt der Schlüssel in unseren Grundbedürfnissen, die tief in uns fest verankert zu sein scheinen: Zunächst strebt der Mensch nach Lebenserhaltung, das heißt Gesundheit sowie körperliches Wohlbefinden. Um Sicherheit zu erlangen, suchen wir Schutz, das heißt wir können uns anpassen, planen, kooperieren und entsprechend unsere Lebens- und Arbeitsräume gestalten. Auch ohne Liebe und Zuneigung hätten wir es schwer zu überleben, deshalb brauchen wir Partner und Freundschaften, Selbstachtung, Respekt, Intimsphäre, Privates, Orte der Begegnung. Das menschliche Gehirn ist so gebaut, dass es verstehen will, wir haben deshalb ein großes Bedürfnis nach Bildung, Erforschen, Bewusstsein, wir wollen lernen und auch auf emotionaler Ebene verstehen, einfühlen und Empathie erleben. Als „Rudeltiere“ wollen wir teilnehmen und Geborgenheit erfahren, deshalb sind wir mit Anpassungsfähigkeit, Engagement und Leidenschaft ausgestattet und wollen gut zusammenarbeiten, teilen, unsere Meinung äußern. Unser Bedürfnis nach Muße, sowohl in Spiel und Erholung äußert sich in Neugierde, Sorglosigkeit, Sinnlichkeit, grübeln, träumen, abschweifen, Entspannung. Da wir auch Kreativität leben wollen, üben wir uns in Leidenschaft, Vorstellungskraft, Geschicklichkeit, Arbeit. Nach Frankl ist eines der wichtigsten Bedürfnisse die Identität, also einen Sinn, eine Aufgabe zu erfüllen, wir wollen dem Leben dienen. Dazu gehört auch unsere gesellschaftliche Zugehörigkeit, unsere Selbstachtung, Werte und Normen, sich erkennen, sich integrieren, sich erneuern und wachsen. Unsere Autonomie und Willensfreiheit wollen wir möglichst nicht eingeschränkt wissen, wir wollen wählen, bestimmen, Toleranz üben, nachdenken.

Diese menschlichen Grundbedürfnisse zu erfüllen, ist natürlich für jeden Menschen wichtig, es bildet die Grundlage der Motivation. Das Reiss Profile® beschreibt auf Basis der menschlichen Bedürfnisse 16 Werte, anhand derer Motivationsprofile für Mitarbeiter in Firmen erstellt werden (Reiss, 2009).Trauernde haben in ihrer großen Verzweiflung und Ohnmacht das Empfinden für ihre Bedürfnisse verloren, da sie oft aus Selbstschutz so wenig wie möglich fühlen wollen. Auch das Vertrauen in ihre Selbstwirksamkeit ist verringert, was demzufolge zwangsläufig dazu führt, dass sogar die Grundbedürfnisse nach Nahrung und Wärme ignoriert werden. So erklären sich auch der mangelnde Antrieb und die oft gering ausgeprägte Motivation trauernder Menschen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle ganz dringend dazu ermuntern, für sich selbst zu sorgen und Betroffene dabei zu unterstützen. Was ist jetzt nötig? Was tut gut? Was nährt? Dabei sei an erster Stelle an die ganz profanen körperlichen Erfordernisse wie ausreichend Schlaf vor Mitternacht, gesunde, ausgewogene Ernährung und genug Bewegung am besten in der Natur, erinnert. Gönnen Sie sich bitte auch ausreichend Erholungspausen zwischendurch und versuchen Sie mindestens einmal am Tag mit einem anderen Menschen zu sprechen. Vielleicht gelingt es ihnen auch, eine Badewanne zu genießen oder die Sauna zu besuchen? Was könnte Ihnen Wohlergehen bieten? Eine besondere Herausforderung ist es natürlich auch, die Beziehung zum Verstorbenen gut zu gestalten. Wie kann ich dem geliebten Menschen nah sein? Wie die Erinnerung aufrechterhalten? Was darf ich neu organisieren? Darf ich mir gut tun? Was hätte er oder sie gewollt? Bei all dem Kummer ist es auch wichtig, den Umgang mit der Außenwelt zu pflegen, denn auch hier findet überlebenswichtige Beziehung statt. Vielleicht gibt es unerwartete Hilfe von außen, die gut tut? Wenn wir uns einigeln, können wir davon nichts annehmen. Das heißt, auch wenn sich unser Herz kalt und eingefroren anfühlt und uns nur nach Rückzug zumute ist, wäre es wichtig, soweit wie möglich durchlässig und im Kontakt mit uns selbst und der Außenwelt zu bleiben.

Eine Umfrage ergab, dass sich fast alle befragten Arbeitnehmer durch ehrliches Interesse, Anteilnahme und Mitgefühl getragen gefühlt haben. Dies geschieht glaubwürdig und authentisch, wenn echte Beziehungsangebote möglich sind. Beziehungen können wachsen, tragen und heilen, sodass auch aus schweren Zeiten Gutes, manchmal Besseres, entstehen kann.

Wie aus der Befragung und den Erfahrungen ebenfalls hervor geht, sind die Bedürfnisse der Betroffenen nicht nur in Bezug auf die Arbeitsgestaltung sehr unterschiedlich. Während ein Mitarbeiter möglicherweise bald die Arbeit wieder aufnehmen möchte, da er damit sein Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit erfüllen kann, fühlt sich ein anderer dazu nicht in der Lage. Möglicherweise hat er das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung, das nur durch Auszeit befriedigt werden kann. Während einige Trauernde das Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit haben und sich über das Erlebte mitteilen wollen, wünschen andere wenig Gespräch und Austausch über das belastende Ereignis. Deshalb ist es nicht nur für Trauernde jederzeit hilfreich, Bedürfnisse einfühlsam zu erfragen und diese dann wertneutral zu akzeptieren.

Dieser Text stammt in leicht gewandelter Form aus meinem Buch: „Wenn Kollegen trauern“ (Kösel 2016)

Trauer im Unternehmen wahrnehmen, verstehen, begleiten
Über den guten Umgang mit Trauer am Arbeitsplatz