Handlungsfähig in der Krise- Stabilität und Zuversicht im System

Wir alle sind zurzeit beruflich und privat von drastischen Veränderungen betroffen. Dies ist eine große Herausforderung für das persönliche Nervensystem und einen Stresstest für fast alle Systeme, in denen wir uns bewegen. Wir möchten handlungsfähig in der Krise bleiben, Stabilität und Zuversicht bewahren.

In mehr als 20 Jahren Trauerbegleitung und bei der Stabilisierung schwer traumatisierter Menschen habe ich gelernt, wie wir Krisen im System meistern können und handlungsfähig, gestärkt und mit neuer Motivation in die Zukunft gehen können.

Erfahren Sie, wie Sie im Flow von Denken, Fühlen und Handeln die Zukunft stabil gestalten, Resilienz fördern.

Was bedeutet Krise? Wie reagieren wir und wie kommen wir wieder zur Normalität?

Für jede Form der Krise finde ich folgendes Modell zutreffend:

Schicksalsschläge lösen Krisen aus

In der Krise werden Ordnungen, Bezüge, Regeln und Routinen durcheinander gewürfelt. Im aktuellen Coronafall muss sich unser tägliches Verhalten ändern, unsere Kontakte dürfen anders gelebt werden…Grundsätzliches, Existenzen, Arbeitsplätze, Freundschaften, Beziehungen unterliegen Veränderungen, sehr viel ist ganz anders als vorher

Generell ist Krise das Gegensatz von Routine, von Gewohntem:

Schleichend, oder ganz plötzlich wird:

  • Die eigene Wahrnehmung bezweifelt.
  • Menschen, Orte, Gegenstände, Abläufe bekommen eine andere Bedeutung.
  • Die eigene Ausrichtung, der eigene Sinn wird in Frage gestellt..
  • Ungewissheit, Unsicherheit, Orientierungslosigkeit entsteht

Auslöser kann eine Veränderung von Außen sein, wie zum Beispiel Arbeitsplatzverlust, Krankheit, Streit, Trennung, Tod oder auch eine innere, seelische Veränderung, zum Beispiel durch Reifungs- und Alterungsprozesse…Pubertät, Midlife-crisis, aber auch schöne Veränderungen wie Hochzeit, Geburt eines Kindes…

Warum wird Krise oft als Chance gesehen?

Schon die Chinesen haben mit ihren jahrtausendealten Schriftzeichen für Krise und Chance das gleiche Symbol gefunden. Weshalb also wird das so gesehen? Wir verbinden doch meist Bedrohung, Ohnmacht, Trauer, Schmerz und Not mit diesem Begriff?

Nach einer normalen Reaktion, in der wir meist versuchen, so weiter zu machen, wie bisher, unbeirrbar an bisher gelernten Verhalten festhalten, müssen wir, nachdem wir vielleicht auch eine Weile in Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit verharrt haben, erkennen, dass wir uns verändern müssen, um zu überleben.

Das ist der Zeitpunkt, der aus der Krise die Chance macht:

Sobald wir bereit zur Veränderung sind und Zugang zu unseren Ressourcen finden, können wir handlungsfähig werden und neue Strategien und Muster entwickeln. Daraus entsteht die Chance, zu lernen, größere Herausforderungen als bisher zu meistern, neue Aufgaben zu übernehmen, eine andere Ausrichtung zu finden, den nächsten Entwicklungsschritt zu bewältigen.

Wie können wir praktisch die Krise zur Chance machen?

Zunächst dürfen wir handlungsfähig bleiben, bzw. wieder in eine Funktion kommen. Dazu stellt sich zunächst die Frage:

Wer oder was ist von den Umwälzungen wie betroffen? Um welches System handelt es sich?

Sind mehrere Menschen, also eine Gruppe betroffen, oder handelt es sich um das individuelle innere System eines Menschen? Für meinen Ansatz macht dies keinen Unterschied, ich möchte der Einfachheit halber zunächst das System des einzelnen Menschen betrachten, genauer das Nervensystem, das der Schlüssel für unsere Reaktionen in Not ist:

Das Nervensystem

Das menschliche Nervensystem teilt sich auf in zentrales und peripheres Nervensystem und dieses wiederum in das somatische und das autonome Nervensystem. Das somatische Nervensystem steuert bewusst unsere Bewegungen und kann Wahrnehmungsreize ans Gehirn weiterleiten. Das autonome Nervensystem reguliert für uns unbewusst unsere Körperfunktionen, wie zum Beispiel Atmung, Herzschlag, Sekretion von Botenstoffen, Verdauung, Temperaturregelung.

Das Autonome Nervensystem ist maßgeblich daran beteiligt, wie wir als Säuger auf Gefahr reagieren.

Der sogenannte Sympathikus stimuliert als Rettungsprogramm die Flucht und Kampfreaktion, während der Parasympathikus ein anderes Notfallprogramm, die Unterwerfungsreaktion auslöst, sobald Flucht oder Kampf aussichtslos erscheinen.

Stephen Porges hat mit seiner Polyvagaltheorie gezeigt, dass der Parasympathikus aus zwei Teilen besteht, dem dorsalen, hinteren Teil und dem ventralen vorderen Teil. Wird der dorsale Vagus stimuliert, wird notfallmäßig die Unterwerfungsreaktion induziert. Beide Rettungs- und Notfallprogramme haben den Vorteil, dass sie hilfreich in der Not sind, aber zur Wahrnehmungsverengung führen. Reaktionen müssen in der Not schnell und automatisch ablaufen, überlegen, reflektieren unter Nutzung unseres Denkerhirnes ist nicht mehr, oder nur eingeschränkt möglich.

Unser Nervensystem reagiert in jeder Krise mit dem natürlichen Notprogramm:

Toleranzfenster und ventraler Vagus

Sobald unser Nervensystem Gefahr wittert, unabhängig von der Art der Bedrohung, wird meist zunächst der Sympathikus (Gelb) aktiviert, um uns wehren zu können und aus misslicher Lage fliehen zu können. Im weiteren Verlauf, manchmal aber auch sofort, wird der dorsale Parasympathikus (blau) aktiviert, was dazu führt, sich dem Schicksal zu ergeben, möglichst nichts mehr zu spüren, Kopf in den Sand… Decke über den Kopf…Augen zu und irgendwie durch….Mittelfristig, bei langandauernder Aktivierung des dorsalen Vagus entsteht dadurch Vermeidung, Depression, möglicherweise auch Sucht. Ist der Sympathikus ständig erregt, bewegen wir uns also ständig im gelben Bereich, entsteht chronischer Stress, mit den dazugehörigen Folgen, wie zum Beispiel Bluthochdruck, Schlaflosigkeit, Ruhelosigkeit.

Regulierung der Notfallreaktion mit dem ventralen Vagus

Wie hat nun die Natur dafür gesorgt, dass wir aus der Notfallreaktion wieder herauskommen? Die Anregung des ventralen Vagus (grün) führt dazu, dass der Sympathikus gebremst wird und statt der automatisch gesteuerten Überlebensprogramme, überlegtes Handeln im Normbereich möglich wird. Wir können uns ruhig und gelassen im grünen Toleranzfenster bewegen und haben Zugang zu unseren verschiedenen Handlungsoptionen. Unser Denken, Handeln, Fühlen und unsere Körperreaktionen sind miteinander im Einklang, wir können bewusst wahrnehmen und steuern. Nur hier können tragfähige Entscheidungen getroffen werden.

Wie können wir unser System in den grünen Bereich navigieren?

 Die erste Frage, die dafür beantwortet werden darf, ist:

Woran erkennst Du, dass Du Dich im grünen Bereich befindest, in dem Du stabil und handlungsfähig bist?

Um das Gesamtsystem zu betrachten, egal ob mehrere Menschen in Organisationen, oder das innere System, bieten sich die verschiedenen Ebenen an, die unser Sein bedingen:

  • Denken
  • Handeln
  • Fühlen
  • Körpererleben / Struktur der Organisation

Das bedeutet, dass wir zunächst feststellen dürfen: was denke ich wenn ich stabil und Handlungsfähig bin? Wie fühle ich im grünen Bereich? Wie sehen im Toleranzbereich die Handlungen aus, wie ist der Körper in stabilen Zustand, wie ist die Struktur meiner Organisation sicher?

Alle vier Ebenen beeinflussen sich gegenseitig, das bedeutet, in einem System kann durch Veränderung in einem Teilbereich auch Bewegung in den anderen Bereichen bewirkt werden:

Wer an gutes Essen denkt, kann auf einmal die verlockenden Düfte in der Nase riechen und das Wasser läuft im Mund zusammen. In Büros findet durch den Umbau der Arbeitsplätze eine andere Kommunikation statt, Kollegen, die sich bisher nie begegnet sind, kommen ins Gespräch…

Denken, Handeln, Fühlen und Körpersensationen im Flow

Im optimalen Fall kommen wir in den Flow, wo alle Gedanken, Gefühle, Handlungen und Strukturen auf den jeweiligen Fokus ausgerichtet sind und ein ausgewogenes Gleichgewicht, sowie Kongruenz entsteht.

Wenn wir herausgefunden haben, wie es sich gut anfühlt, gedanklich, körperlich, gefühlt und im Tun, können wir im nächsten Schritt überlegen, wie wir aus der Übererregung, also aus der gelben Kampf und Fluchtzone wieder in den grünen Bereich kommen, und auch anders herum, wie wir aus der blauen, eher untererregten, lethargisch- depressiven Zone in den handlungsfähigen grünen Bereich kommen.

Das ist die Grundlage der Krisenintervention:

Herausfinden, was im Moment Sicherheit und Beruhigung bedeuten würde, dann überprüfen, wo jedes einzelne Mitglied des Systems steht und herausfinden, wie jede und jeder wieder im grünen Bereich landen kann.

Wer im gelben Bereich ist, sich leicht aufregt, sehr sensibel ist, viel wahrnimmt, auf Hochtouren denkt, ständig pausenlos im Tun ist, benötigt Beruhigung des Nervensystems, darf sich runterregulieren, sich fokussieren, entspannen und erden.

Wer im blauen Bereich ist, wenig fühlt, verlangsamt denkt , schwer ins Tun kommt und eher unbeteiligt oder oft kränklich ist, bedarf einer Aktivierung des Nervensystems, um wieder in den grünen, ventralen Bereich zu kommen.

Was ist die Chance in der Krise?

Sind alle Player im System wieder in der Lage, mit den Gedanken, Gefühlen, Handlungen und Strukturen gut im Kontakt zu sein, werden sie sich in der neuen Umgebung anders wahrnehmen, sie werden neue Bezüge herstellen, sich neu orientieren und möglicherweise eine neue Ordnung herstellen. Es wurden neue Muster geübt, größere Herausforderungen gemeistert, neue Kraftquellen erschlossen, spezielle Fertigkeiten entwickelt, Beziehungen zu anderen Personen geknüpft oder anders gestaltet. Die meisten Menschen wachsen an ihren Krisen und nutzen sie, um ihr Leben in neue Bahnen zu lenken.

Auch wenn es auf dem Weg aus der Krise oft nicht möglich erscheint, stellt sich wieder Lebenszufriedenheit ein, manchmal sogar mehr als vorher.

Wiederherstellung einer neuen Ordnung , Krise als Chance

im nächsten Beitrag werde ich dann noch näher darauf eingehen, wie es praktisch möglich ist, aus der Übererregung , bzw. aus der Untererregung in den grünen Toleranzbereich zu gelange